Praxen behandeln Patienten umsonst
Es ist laut Gassen augenfällig, dass sich die Politik scheut, ernsthaft und grundsätzlich darüber nachzudenken. Die Praxisgebühr von 10 Euro wurde aus politischen Gründen und wegen Fehlern in der Grundsystematik bereits wenige Jahre nach Einführung beendet. Auch sei kein politischer Akteur bislang auf das von den deutschen Kassenärzte vorgeschlagene Wahltarif-Modell eingegangen. Die Kassenärztlichen Vereinigungen stellen sicher, dass die ambulante medizinische Versorgung reibungslos funktioniert
Gassen, Facharzt Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie und Rheumatologie, beschreibt im Beitrag, eine Folge der Budgetierung: Durch das Prinzip der freien Arztwahl und der uneingeschränkten Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen sehe sich Deutschland unverändert, einem permanenten Anstieg der Arzt-Patienten-Kontakte und der Behandlungsfälle ausgesetzt. Gleichzeitig würden die Leistungen nur im Rahmen des Budgetdeckels, also quotiert vergütet. «Das bedeutet im Klartext: Für 1 Euro auf der Abrechnung finden sich auf dem Konto nur 90 oder schlechtestenfalls 75 Cent wieder.»
Reduktion der Abgeltung vor allem für Fachärzte
Der Anteil der nur anteilig vergüteten Arbeit sei ferner regional und nach Fachgruppen verschieden. In manchen Stadtstaaten beträgt die Quotierung – also die Reduktion der Abgeltung der Leistung – bei den Hausärzten 25 Prozent. Vor allem aber im fachärztlichen Bereich sind laut Gassen in allen Fächern hohe Quotierungen zu beobachten.
Selbst wenn das Budget eingehalten werde oder die darüber hinaus erbrachten Leistungen eben nicht oder nur geringfügig vergütet würden, drohten noch Wirtschaftlichkeitsprüfungen, schreibt der 56-Jährige . Und diese münden im schlechtesten Fall in die Rückforderung von bereits ausgezahltem Honorar – bis zu sechsstellige Summen.
«Staatlich verordnete Mehrarbeit»
Für die einzelne Praxis heisse dass: Jeder Arzt müsse in erster Linie die grundsätzliche Entscheidung treffen, sich entweder auf eine permanente Selbstüberprüfung der im bisherigen Quartal «verbrauchten» Budgets einzulassen oder die drohende Quotierung der Leistungen hinzunehmen. Es gebe Kollegen, die sich für den letzteren Weg entscheiden, so der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. «Viele aber registrieren genau, ab wann sie ihre Patienten rechnerisch für umsonst behandeln.»
Doch damit sei nicht genug: Die Politik fordere nun noch zusätzliche Leistungen, mit fünf Sprechstunden mehr pro Woche. So offenbare sich auch eine Überdehnung des Budgetprinzips. Dies sei für die Kassenärzte nicht mehr hinnehmbar. «Sie würde eine staatlich verordnete Mehrarbeit ohne Honorarausgleich bedeuten.» Deshalb will die Kassenärztlichen Bundesvereinigung das Prinzip der Budgetierung aufbrechen. «Die Budgetierung muss weg, in all ihren Facetten!», schreibt Andreas Gassen.
Globalbudget schreckt Nachwuchs ab
Während sich die Budgetierung zu einem spezifischen historischen Zeitpunkt kurzfristig bewährt habe, zeige heute das Instrument der Budgetierung eine kontraproduktive Wirkung, so das Fazit des Mediziners. Unter anderem, weil es den Nachwuchs von der Niederlassung abschrecke. «Es gehört deshalb zugunsten einer verantwortungsvollen Patientensteuerung, wie sie es in der Schweiz grösstenteils schon gibt, abgeschafft.»
Was also die Einführung von Globalbudget in der Schweiz tatsächlich für Konsequenzen haben wird, ist in der Schweiz noch lange nicht ausdiskutiert. Welche Leistungserbringer würden welche Budgets erhalten? Wie hoch soll etwa das Budget eines Radiologen sein? Und wie verhält es sich mit der Stärkung der Hausarztmedizin, wenn die Budgetierung junge Hausärzte verunsichert. Trotz allen Befürwortern bleibt für das Schweizer Gesundheitswesen zu hoffen, dass die Einführung von Globalbudgets nicht mehrheitsfähig ist.
Ärzte im «Gefangenendilemma»
Sehr anschaulich beschreibt Andreas Gassen das in der Spieltheorie vielfach genannte «Gefangenendilemma». In diesem Dilemma befinden sich die einzelnen Ärzte im System eines Kollektivbudgets:
- Ich weiss, die Menge des Geldes reicht nicht für alle Leistungen, also bekomme ich nur einen Teil meiner Leistungen bezahlt.
- Ich weiss, dass meine Kollegen das auch wissen. Würden wir beide nur – sagen wir – 95 Prozent der Leistungen erbringen, reicht das Geld für alle erbrachten Leistungen.
- Ich weiss aber nicht, wie sich meine Kollegen verhalten. Ich weiss nur, dass derjenige, der mehr Leistungen erbringt, auch einen höheren Anteil des Geldes erhält.
Die Konsequenzen: Jeder erbringt, so viel er kann. So verhalten sich rationale Individuen in dieser Situation, obwohl nicht mehr Geld zur Verfügung steht. «Die Ärzte kannibalisieren sich in so einer Welt, der Kollege wird zum Gegner im Verteilungskampf um das Budget.»
Um dies zu vermeiden, gibt es Gassen zufolge innerhalb der Budgetwelt nur eine Lösung: Das kollektive Budget müsse zwingend in kleine handliche individuelle Budgets – letztlich bis auf Ebene der einzelnen Praxen («Regelleistungsvolumina») – zerlegt werden. Diese Aufgabe sei seit Einführung der Budgetierung in Deutschland nicht zufriedenstellend gelöst. Für die bei einem kollektiven Budget unumgänglichen Verteilungsdiskussionen um die Budgetanteile gebe es zudem auch keine korrekte Lösung, es gibt gemäss Gassen nur temporär akzeptable lösungsartige Zustände, also politisch akzeptierte Verteilungsergebnisse.